Münchner Zentrum für antike Welten
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Organisation of Dealing with Dissent

Funktionierende Kommunikation (sei es als 'Zusammenleben', sei es als 'Austausch') ist empirisch betrachtet keine Selbstverständlichkeit. Die Störung, zumal durch den Widerspruch oder „Dissens“, innerhalb einer Gruppe oder durch Einwirkung von Außen, können Kulturen nur dann in kräfteökonomisch sinnvoller Weise aushalten, wenn sie Mechanismen des Umgangs mit derartigen Störungen entwickeln. Diese Mechanismen stellen ein reiches Forschungsfeld dar: Denn sie können, je nach Organisationsgrad und -form einer Kultur und je nach Art der Störung, in religiösen Praktiken (etwa Sühneriten) bestehen, in normativen Ordnungen (Rechtssysteme, Tabus, Unterscheidungen von Häresie und Orthodoxie), die den Widerspruch stigmatisieren und damit versuchsweise ausgrenzen, oder in geregelten Verfahrensformen, die entweder als Gerichtsverfahren über die Zulässigkeit des Widerspruchs entscheiden (und ihn damit in die Ordnung integrieren) oder ihn als Toleranzprinzip zu einem akzeptierten heterodoxen Element in der Kultur machen. Wichtige Bereiche der materiellen Kultur aus allen in der School beteiligten Fächer lassen sich der Organisation von Formen des Widerspruchs zuordnen, zahlreiche Texte handeln von ihm.

Besondere Ergiebigkeit als Forschungsthema entwickelt der 'Umgang mit Widerspruch' in zwei Perspektiven, zum einen dann, wenn es in einer Kultur in ihrem Selbstverständnis keine Notwendigkeit für die Organisation von Widerspruch gibt, weil sie gut geordnet ist – wie im Fall des von konfuzianischen Loyalitätsvorstellungen geprägten China. Dort war etwa ein Balanceakt erforderlich, zu dem chinesische Gelehrte und konfuzianische Höflinge gezwungen waren, wenn sie ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staat, aber auch gegenüber ihren Familien einhalten und sich nicht gefährden wollten. Dies führte zu einer speziellen Rhetorik, zu der die Formulierung von den „kleinen Worten mit großer Bedeutung“ (wei yan da yi) gehörte, eine Kunst, vom herrschenden Diskurs abweichende Meinungen subtil, aber für den Eingeweihten doch deutlich vorzubringen. In der Tradition dieser Rhetorik stehen auch Geschichtswerke: So sind die Aufzeichnungen des ersten großen chinesischen Historikers Sima Qian (145-87 v.Chr.) nicht, wie dies eine ältere Generation von Sinologen noch getan hat – als Faktengeschichte zu lesen, sondern als ein kritischer Beitrag zu den politischen Themen seiner Zeit.

Eine zweite Perspektive in der Untersuchung der Organisation des Umgangs mit Widerspruch ergibt sich, wenn in einer Kultur sich eben diese Organisation grundlegend wandelt. Ein solcher Wandel ist etwa in der griechischen Kultur zu konstatieren, die sich im 5. Jh. v. Chr. von einem archaisch-aristokratischen Konzept des Umgangs mit Widerspruch, das die Auflösung in Konsens vorsieht, zu einem "demokratischen" Konzept verändert, das den Widerspruch in einer Mehrheitsentscheidung hinnimmt. Ein solcher Wandel hat Konsequenzen für die intrakulturelle Interpretation von Kunst- und Literaturwerken, die vor dem Wandel entstanden sind, die es zu untersuchen gilt: Wie verändert sich etwa die Interpretation des "Widerspruchsgeschehens", das die Ilias (mit der ménis des Achill) darstellt, in der Ilias-Rezeption unter demokratischen Vorzeichen? Ein veränderter Umgang mit Widerspruch ergab sich auch mit der Förderung und Privilegierung des Christentums durch den römischen Staat seit dem 4. Jhdt.: Häresie konnte jetzt mit staatlichen Zwangsmitteln geahndet werden. In welchen Formen konnte dies umgekehrt neuen Widerspruch provozieren, etwa wenn die Orthodoxie als staatlich aufoktroyiert empfunden wurde?

Die Principal Investigators verbinden mit diesem Forschungsschwerpunkt ferner die Erwartung, daß die Bündelung von Forschungsprojekten aus den unterschiedlichen Disziplinen, deren Frageperspektiven sich auf den Umgang mit Widerspruch ausrichten, wiederum die heuristisch bedeutsame Chance eröffnet, die sonst schwerer erkennbare Spezifik eines einzelnen Bewältigungsmechanismus bestimmen zu können.