Münchner Zentrum für antike Welten
RSS Facebook-Page

Eine Übersetzung dieser Seite steht leider nicht zur Verfügung.

Alte Geschichte

Der Feind in meiner Stadt. Politische Aufmerksamkeit(en) im 5. Jh. v. Chr.

Förderungszeitraum: April 2014 - Oktober 2017
 
Unter Heranziehung neuerer soziologischer Theorien soll die Geschichte der Polis des 5. Jh. v. Chr. als Geschichte der (politischen) Aufmerksamkeit gelesen werden. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass Aufmerksamkeit nicht erst in der gegenwärtigen Gesellschaft eine knappe Ressource (so z.B. Luhmann) darstellt: Aufmerksamkeit setzt Selektion und Hierarchisierung nach bestimmten Ordnungskriterien voraus. Sie variiert dabei je nach Gesellschaftstyp, sozialem Feld und sozialen Subfeldern, sozialer Rolle, Milieu, Geschlecht, Sozialisation/Erziehung und Beruf, und wenngleich sie daneben von individueller Erfahrung mitbestimmt wird, so ist auch diese wiederum von den genannten Rahmenbedingungen beeinflusst. Aufmerksamkeit ist immer auch einem Transformationsprozess unterworfen: Sowohl Bezüge als auch Intensität der Aufmerksamkeiten passen sich sensibel an historische Veränderungen wie beispielsweise Krieg oder Frieden, die Veränderung des politischen Systems oder sich ändernde Rollen und Positionen von Individuen an; sie kann aber ebenso gelenkt werden (s. etwa M. Schroer: Soziologie der Aufmerksamkeit. Grundlegende Überlegungen zu einem Theorieprogramm, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 66/2014, 193-218; A. Hahn: Aufmerksamkeit, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hrsg.): Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII, München 2001, 25-56).
Das 5. Jh. bietet sich für eine historische Untersuchung von Aufmerksamkeit an, da sich einerseits in Athen mit der Entstehung und Ausbildung der Demokratie eine intensive politische Entwicklung vollzog, die zudem am Ende des Jahrhunderts kurzfristig scheiterte, andererseits die gesamte griechische Staatenwelt durch außenpolitische Krisen – die Perserkriege, den sogenannten Peloponnesischen Krieg, die Spannungen zwischen Athen und Sparta auch in „Friedenszeiten“ – geschüttelt wurde: Es ist mithin davon auszugehen, dass sich die Aufmerksamkeiten mit ihren genannten Implikationen ständig veränderten, verschoben, neue hinzukamen oder bestehende verschwanden. Es ist ebenso davon auszugehen, dass die diversen gesellschaftlichen Gruppierungen innerhalb des Makrosystems Polis – Frauen und Männer, Vollbürger und Metöken, Bürger in hervorgehobenen Positionen und „Normalbürger“, Freie und Sklaven... – ihren jeweils eigenen Aufmerksamkeits-Beitrag (mit Hahn „Sonderaufmerksamkeiten“) zu einer abstrakten gesamtgesellschaftlichen Aufmerksamkeit leisteten, die sowohl für die antike Polis von Relevanz war als auch für die moderne Konstruktion und damit für das vorliegende Forschungsvorhaben von Bedeutung ist: Im Sinne Husserls und Luhmanns eliminiert die Selektion nämlich nicht das Nicht-Gewählte, sondern verschiebt es lediglich in den „Horizont“, der auch durch das Bekanntwerden des von anderen Gruppierungen Gewählten „schon im nächsten Moment zum Zentrum der Aufmerksamkeit werden [kann]“ (Hahn 2001, 27). Gefragt wird deshalb nach Aufmerksamkeitsbezügen der diversen Gruppierungen, ihrer Intensität, ihrem Wandel, den Gründen, weshalb gerade diesen Ereignissen, Personen, Gegenständen Aufmerksamkeit zukam und nicht anderen, wie und wann Aufmerksamkeit reguliert und gelenkt wurde sowie welche Auswirkungen und Funktionen sie hatte.