Münchner Zentrum für antike Welten
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Organisation of Coexistence

Antike Gesellschaften auf die Formen und Prinzipien zu untersuchen, mit denen Zusammenleben organisiert wurde, rückt zunächst Rechtssetzung, Normen und andere Regelwerke in den Blick (worin eine Verbindung zur Focus Area "Constructions of Norms" zu sehen ist), weitet das Untersuchungsspektrum aber auch aus auf Rituale, sakrale und politische Ordnungen, ästhetische Kategorien und Siedlungsformen, in denen durch Bautypen und Maßnahmen der Infrastruktur öffentliche, halböffentliche und private Räume bezeichnet und mit spezifischen Funktionen versehen werden. Auch die Betrachtung der Götterwelt als Spiegel der menschlichen Gesellschaft kann hier erhellende Einblicke in Konzeptualisierung von Zusammenleben in antiken Kulturen eröffnen. Und schließlich gilt es, die Selbstreflexionen der Gesellschaften über die Formen von Zusammenleben zu analysieren, die sich in philosophischen, historischen, literarischen, religiösen oder juristischen Texten und Diskursen abbilden.

An diesen Gegenstandsbereichen sollen darüber hinaus auch die ihnen jeweils zugrunde liegende historische Dynamik und Weltbilder untersucht werden. Dazu zählen besonders die verschiedenen Prozesse der Gemeinschaftsbildung: Migration verursacht durch religiöse sowie ökonomische Gründe kann diesen Prozess entscheidend beeinflussen, militärische Eroberungen ihm eine andere Richtung geben. Ebenfalls sollten Aspekte der Akkulturation, der Institutionalisierung gesellschaftlicher Aufgaben sowie der Festschreibung oder Infragestellung sakraler Ordnungen, mithin Aushandlungsprozesse von Zusammenleben beachtet werden. Die Selbstwahrnehmung einer Gruppe und ihre Form der Interaktion mit konkurrierenden Gemeinschaften, die sich ein unmittelbares ideologisches oder physisches Landschaftsbild teilen, spielt dabei eine wichtige Rolle.

Die Untersuchung der Organisation von Zusammenleben hat ferner auch den Zusammenbruch einer solchen Organisation, die Dekonstruktion bzw. Destruktion zu berücksichtigen. Eine solche Destruktion kann handgreiflich die materielle Seite einer Kultur betreffen (und fällt als Untersuchungsbereich einer „Archäologie der Zerstörung“ besonders den archäologischen Disziplinen zu), sie kann aber auch als Imagination Kulturen eingeschrieben und etwa Bestand der Rituale und Mythen sein, wodurch sie zum Untersuchungsgegenstand der Textwissenschaften (mit religionshistorischer Perspektive) wird.

Für diese Frageperspektive bietet der Standort München besondere Voraussetzungen, da hier die Erforschung der antiken (städtischen) Kultur im historischen und archäologisch greifbaren Wandel in verschiedenen Disziplinen seit Jahrzehnten einen zentralen Platz einnimmt (siehe u.a. die Kommission für die Erforschung des antiken Städtewesens an der BAdW und die DAI-Cluster „Lebensrealitäten in der Spätantike“ und „Innovationen“, an dem die Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik beteiligt ist). Der Konnex zwischen Siedlungsformen, urbanen Räumen, Stadtbildern, bürgerlichen Identitäten und Formen der Gemeinschaftsorganisation besitzt in der Altertumswissenschaft höchste Aktualität. Die Focus Area "Organisation of Coexistence" bietet eine besondere Chance, mit dem hier skizzierten Forschungsschwerpunkt sowohl auf die historischen und archäologischen Ansätze zuzugreifen als auch eine Erweiterung um philosophische und philologische Perspektiven vorzunehmen: In dieser Kombination soll die Eigenlogik unterschiedlicher Kulturräume im interkulturellen Vergleich besonders erfasst und in summa Beharrungsvermögen, Innovationspotential oder revolutionären Impetus bei der Organisation von Zusammenleben in Forschungs- und Dissertationsprojekten bearbeitet werden. So erscheint es etwa besonders lohnenswert, am Beispiel verschiedener antiker Städte die reiche Überlieferung an Urkunden nicht nur für die Frage nach der Verwaltung von Arbeit und Produktion, sondern insbesondere im Horizont einer Organisation von Zusammenleben auszuwerten und mit den archäologischen Befunden und Interpretationen zu vergleichen und in Beziehung zu dem sie umgebenden Umland zu setzen. Solche exemplarische Untersuchungen eröffnen die Möglichkeit, die Spezifika altorientalischer oder ägyptischer Gemeindewesen im Vergleich mit denen des Klassischen Altertums auf der einen und den prähistorischen Siedlungen, u.a. in Zentraleuropa, auf der anderen Seite zu erfassen.