Münchner Zentrum für antike Welten
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Constructions of Norms

Normen, d.h. wertorientierte Regelwerke, sind in den Kulturen der alten Welt omnipräsent. Sie bilden daher eine Forschungsperspektive, die von allen in der School verbundenen Fächern genutzt werden kann. An ihnen kann u.a. analysiert werden:

(i) das Selbstverständnis der sie tragenden Gruppen,

(ii) ihre Bedeutung als Handlungsanleitung oder ideelle Orientierungsmuster,

(iii) ihre Funktion bei Stabilisierung oder Wandel einer Kultur,

(iii) der Grad ihrer Verbindlichkeit, und damit verbunden:

(v) der Grad ihrer Explizitheit (etwa in juristischen oder religiösen Texten im Gegensatz zu 'literarischen' Texten, in öffentlichen Denkmälern im Gegensatz zu persönlichen Bildern im Haus),

(vi) die Konkurrenz zwischen Normen in einer Kultur,

(vii) die Valenz kultureller Schlüsselbegriffe wie "Wahrheit" oder "Glück", soziale Normen im Spiegel körperbetonter Identitätsmuster (the body-turn) etc.

Die Fokussierung auf Normen und ihre Konstruktionsprinzipien eröffnet zugleich Untersuchungsfelder auf verschiedenen Ebenen: Sowohl die umfassende Analyse, wie in einer spezifischen Kultur in einer konkreten Zeitstellung ein Normengefüge konstruiert ist (oder einzelne Normen generiert werden), wie auch die Spezialstudie zur Bedeutung einer bestimmten Norm in einer oder mehreren Kulturen oder zur Wirksamkeit einer Norm in bestimmten (Kunst-)produkten einer Kultur werden durch sie zusammengeführt.

Neben Einzeluntersuchungen von derartigen konkreten normativen Zusammenhängen soll ebenfalls darüber nachgedacht werden, wie sich die Untersuchung von Normen in eine allgemeine Methodik einer kulturwissenschaftlich orientierten Altertumswissenschaft einfügt. Dies erscheint umso dringlicher, als die jüngere, auf moderne Kulturen bezogene Kulturwissenschaft, ihre Berechtigung gerade aus der Infragestellung einer normativen Betrachtung von Kulturen herleitet. Die Untersuchung von Normen in der School soll auch die Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von dieser ‘modernen’ Kulturwissenschaft einbeziehen. Ebenso gilt es, behutsam zwischen nachträglich an eine antike Kultur herangetragenen Normen und von dieser Kultur selbst etablierten Normen zu differenzieren.

Es ist also offensichtlich, daß die Analyse der Konstruktion von Normen für alle Kulturen der alten Welt ein sinnvolles Unterfangen ist. Nicht minder sinnvoll ist diese Analyse auch für die Alte Geschichte, Ägyptologie, Altorientalistik und die Archäologien bis hin zur Vor- und Frühgeschichte, für die sich ein breites Themenspektrum anbietet, zu dem etwa die Distinktionsmechanismen innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppen gehören (hier läßt sich zudem eine Verbindung mit dem Forschungsschwerpunkt "Konstruktionen von Eliten" herstellen). Diese gründen sich auf unterschiedliche Ebenen personen-, d.h. körpergebundener Normsysteme („Tracht“) und ihrer Reflexion im religiös-sozialen Kontext (Grab- und Opfersitten) sowie normative kommunale Distinktionsphänomene (Siedlungshierarchien, Monumentalisierungsphänomene etc.).  

Ferner kann das Problem der Konstruktion von Normen auch im Kontext der vielfältigen Umgangsformen antiker Gesellschaften mit 'fremden' Kulturen untersucht werden, deren Analyse bis heute von einem Barbaren-Begriff überschattet ist, dessen einseitige ideologische Polarisierung kaum zu tilgen ist. Die Forschung steht daher vor der Aufgabe, dem de facto ungleich komplexeren Umgang mit dem Fremden in der Antike gerecht zu werden. Er oszillierte, je nach Zeit, Ort und Gesellschaft, zwischen so widersprüchlichen Polen wie selbstverständlicher Integration, betonter Demarkation, extremer Gewalt und enormer Faszination, und es bietet sich an, besonders auffällige (und teilweise noch immer unerklärte) Phänomene der Diskursivierung des Fremden wie die Skythomania in Athen, die 'schönen' Amazonen etc., im Fokus der Normenkonstruktion zu untersuchen.